Einleitung

Am 26.01.2024 hat Karl Nehammer, amtierender österreichischer Bundeskanzler, mit seinem sogenannten “Österreichplan” das Wahlprogramm, das er sich für die ÖVP wünscht, vorgestellt. Darin befinden sich zahlreiche alarmierende Punkte, unter anderem queere Menschen, Menschen in Armut, People of Color und geflüchtete Menschen betreffend.

Uns sind besonders auf den Seiten 36 und 57 queer- und transfeindliche Behauptungen ins Auge gestochen, die wir so nicht unkommentiert stehen lassen können. In diesem Brief bereiten wir die schädlichen Aussagen jener Seiten kritisch auf und schaffen Kontext für einen gesellschaftlichen Zusammenhalt frei von derlei Vorurteilen.

Gesellschaftliche Veränderungen, so natürlich sie sein mögen, können Unsicherheiten auslösen. Das ist vollkommen verständlich. Deswegen soll unser Brief eine möglichst übersichtliche Zusammenfassung des Diskurses für euch bieten, mit reichlich Quellen und Links zum Nachlesen, damit ihr euch bei Bedarf weiter informieren könnt. Diese findet ihr zum Schluss dieses Statements. Die Quellen sind jeweils zur Zuordnung mit einem eigenem Code gekennzeichnet. (Beispiel: [Q1] ) Ihr findet diese Codes im Statement wieder an den Stellen, wo sich auf diese jeweiligen Quellen bezogen, bzw. daraus zitiert wird.

Falls ihr euch mit einzelnen hier verwendeten Begriffen schwertut, bieten wir euch zunächst einen Blick auf das Glossar, ebenfalls am Ende dieses Statements, an. Diese Liste kann jedoch nur ein erster Schritt sein und so legen wir euch nahe, diese und weitere der genannten Begriffe und Zusammenhänge bei Gelegenheit selbstständig nachzuschlagen.

„Kinderschutzpaket“ (Seite 36)

Wir stimmen zu, dass Jugendliche und Kinder geschützt gehören, besonders vor „medizinisch und ethisch umstrittenen Therapien“ wie der Konversionstherapie oder vor nicht-konsensuellen Eingriffen an inter* Neugeborenen, Kindern und Jugendlichen. Beides sind Maßnahmen, die in Österreich immer noch erlaubt sind. Das meint aber Nehammer leider nicht, wenn er die zitierten Begriffe verwendet. Für ihn scheint das große Problem in einer menschenwürdigen Gesundheitsversorgung von trans Minderjährigen zu liegen, insbesondere der Hormonbehandlung. Dabei ist der Einsatz von Hormonbehandlung nicht fragwürdig, sondern hilft, medizinisch nachgewiesen, den psychischen Leidensdruck von trans Personen zu lindern. [Q1] [Q2] [Q3]

In Österreich sind für die medizinische Behandlung von Geschlechtsdysphorie bei Minderjährigen mindestens drei Stellungsnahmen notwendig, die durch ein breit aufgestelltes medizinisches Team von psychotherapeutischer, klinisch-psychologischer und psychiatrischer Seite erbracht werde. Zudem sind eine „soziale Erprobungsphase“ und die Zustimmung der Obsorgeberechtigten von Nöten. [Q4] [Q5]

Eine Hormontherapie wird in der Regel nicht vor dem 16. Lebensjahr begonnen. Davor können reversible Behandlungsmethoden („Pubertätsblocker“) eingesetzt werden, um die Veränderungen durch die natürliche Pubertät während der Dauer der Einnahme zu verhindern oder zu stoppen. So kann etwa Jugendlichen mit Geschlechtsdysphorie mehr Zeit verschafft werden und sie werden vor (teils irreversiblen) körperlichen Veränderungen geschützt, die nicht der Norm ihrer Geschlechtsidentität entsprechen. Dabei werden sie stets von psychotherapeutischen und medizinischen Fachkräften begleitet. [Q6]

Behandlungen mit Hormonblockern werden zudem nicht nur bei trans Kindern bzw. Jugendlichen eingesetzt, sondern finden bereits seit längerem Anwendung wenn eine sonstige medizinische Indikation festgestellt wird.

Bei Hormonbehandlungen ist es uns zudem ein Anliegen, die Diskriminierung von inter* Personen sichtbar zu machen. Inter* Personen werden von Geburt an über das ganze Leben hinweg von Gesellschaft und Medizin in männliche oder weibliche Normbilder gedrängt, unter anderem durch medikamentöse und chirurgische Eingriffe gegen ihren Willen. Daher ist hier zu betonen, dass Autonomie das Kernanliegen ist. Medizinisch können Hormonblocker eine sichere, reversible und sinnvolle Maßnahme sein, um Kindern und Jugendlichen aller Geschlechter die Zeit und den Raum zu geben, den sie brauchen – aber ohne Normzwang und nur, wenn das explizit gewünscht wird.

Die gelegentlich als Gegenargument angebrachten „Bedauern nach der Transition“ sind äußerst selten und sind noch seltener geworden, seit sich sowohl die chirurgischen Techniken als auch die soziale Unterstützung verbessert haben. Die Zusammenfassung der Daten zahlreicher Studien zeigt, dass der Anteil von Menschen, die ihre Transition bereuen, zwischen nur 0,3 und 3,8 Prozent liegt. In der überwiegenden Zahl dieser Fälle ist Bedauern auf mangelnde soziale Unterstützung nach der Transition oder schlechte chirurgische Ergebnisse bei Verwendung älterer Techniken zurückzuführen. [Q7]

Zudem leiden trans Personen, insbesondere solche, die keinen oder mangelhaften Zugang zur Behandlung von Geschlechtsdysphorie (z.B. Hormontherapie, Geschlechts-bejahende Operationen) haben oder auf kein unterstützendes soziales Umfeld treffen, häufiger als die Allgemeinbevölkerung unter gesundheitlichen Problemen wie Depressionen, Angstzuständen, Suizidalität und Minderheitenstress. Während die Transition (in Form einer professionelle Behandlung und Unterstützung aus dem familiären und sozialem Umfeld) diese Belastungen deutlich lindern kann, werden Gesundheit und Wohlbefinden von trans Personen durch stigmatisierende und diskriminierende Behandlungen klar in Mitleidenschaft gezogen. [Q7] [Q8] [Q9]

Ein pauschales Verbot von Hormontherapien von unter 18 Jahren, wie Nehammer es hier herbeisehnt, würde also eine beachtliche Gefährdung von trans Kindern und Jugendlichen, sowie deren Wohlbefinden, bedeuten.

Dieses Verbot von Hormonbehandlungen würde übrigens notwendigerweise auch einige andere Therapien, wie etwa die “Pille”, diverse Krebstherapien, Wachstumshormontherapie, Insulin, Behandlung von Schilddrüsenerkrankungen betreffen. Zur Differenzierung genügt hier nicht, dass Nehammer laut einem kleinen Nebensatz Hormontherapien nur dann verbieten will, „sofern keine medizinischen Gründe vorliegen“. Wie wir weiter oben gezeigt haben, ist sich die Wissenschaft einig, dass Hormontherapien notwendig sind für das Wohlergehen von trans Personen, insbesondere von trans Minderjährigen. Nehammer argumentiert hier (indem er ohne Nachweise das Gegenteil behauptet) mit aufgeladenen Begriffen gegen medizinisch fundierte Verfahren zum Schutz von Kindern und Jugendlichen. Damit stellt er sich klar gegen wissenschaftlichen Konsens.

Zuletzt fordert Nehammer, der Schutz von Kindern im Internet müsse weiter ausgebaut werden. Dem stimmen wir zunächst mit ganzem Herzen zu. Er konkretisiert jedoch leider nicht, welche Maßnahmen zum Schutz vor welchen Gefahren ergriffen werden sollen. Nachdem diese Forderung im selben Absatz steht, der unbegründet und pauschal Angst vor „Gender-Themen“ und medizinisch notwendigen Verfahren schürt, müssen wir befürchten, dass er mit derlei Maßnahmen Kinder auch von einer grundlegenden Aufklärung über queere Themen abhalten will.

Nicht nur sind trans Identitäten schon lange Teil der menschlichen Geschichte, ihre wissenschaftliche Untersuchung und verantwortungsvolle Behandlung im deutschen Sprachraum sind bereits über 100 Jahre alt. Die entsprechenden Aufzeichnungen des Berliner Instituts für Sexualwissenschaft waren jedoch eines der ersten Opfer der Zensur und Bücherverbrennung des Nationalsozialismus und weitere Forschung war lange Zeit unterdrückt. In diesem Kontext von einem „gegenwärtige[n] Hype“ oder besonders herausfordernden „Ideologien“ zu reden ist also höchst realitätsfern und ignoriert vorsätzlich wichtige Geschichte.

„Gender-Missbrauch abschaffen“ (Seite 57)

In diesem Abschnitt kritisiert Nehammer zunächst das Gendern und die daraus angeblich entstehenden problematischen Folgen in Sprache und Alltag und unterstellt im selben Satz auch noch, dass “biologische Männer an Sportveranstaltungen für Frauen“ teilgenommen und die Schutzräume von Frauen „vereinnahmt“ hätten.

Mit dieser Wortwahl greift er eindeutig transfeindliche Narrative unter dem Deckmantel des Schutzes von Frauen auf. Dazu müssen wir klar sagen: trans und inter* Frauen sind Frauen, keine Männer. Wie cis Frauen sind auch trans und inter* Frauen von patriarchaler und sexualisierter Gewalt betroffen, nicht zu schweigen von transfeindlicher bzw. inter*feindlicher Gewalt. Daher sind Schutzräume für ALLE Frauen wichtig. [Q10] [Q11] [Q12]

Nehammer suggeriert damit, dass Männer sich als trans Frauen ausgäben, psychologische und psychotherapeutische Gutachten durchliefen, ihren Namen und Personenstand änderten, nur um z.B. in eine Damenumkleide eindringen zu können. Das ist erschreckend weltfremd. Wenn ein Mann mit niederen Absichten eine Damenumkleide betreten möchte, kann er einfach so die Tür benützen, ohne den ganzen (in der heutigen Rechtslage zudem teils sehr erniedrigenden) bürokratischen Prozess zu durchlaufen.

Im Übrigen nehmen Frauenhäuser bereits trans und inter* Frauen auf und haben sich zu der Debatte rund um Frauenschutzräume schon positioniert. [Q13] [Q14]

Weiters legt er unterbewusst nahe, Männer seien automatisch besser als Frauen im Sport. Dabei kommt es dort nicht nur auf die Körperkraft, sondern auch auf viele weitere Eigenschaften, darunter etwa Hand-Augen-Koordination, Technik oder den Zugang zu Trainingsmöglichkeiten/-Geräten, an. Zudem gleicht sich die körperliche Kraft von trans Frauen, welche eine „männliche Pubertät“ durchlaufen haben, nach ca. 2 Jahren Hormonbehandlung bereits der Leistung von cis Frauen an, weshalb selbst hier eine Unterscheidung nach sportlichen Kriterien nicht haltbar wäre. [Q15] [Q16]

Uns ist es außerdem wichtig, hervorzuheben, dass überholte eurozentrische Anforderungen an das Konzept „Weiblichkeit“ cis Frauen (besonders Frauen of Color) und inter* Frauen im Weg stehen: so werden etwa Testosteron-Tests verwendet, um Athlet*innen die Teilnahme an Sportveranstaltungen zu versagen, ungeachtet ihres gelebten Geschlechts. [Q17]

Nehammer fordert eine „klare rechtliche Konkretisierung der Geschlechter und geschlechterspezifischer Räume“, damit sich „Frauen in den Räumen, welche für sie etabliert worden sind, sicher fühlen“. Wir fragen uns, wie er sich diese Konkretisierung vorstellt, bzw. ob diese verfassungsrechtlich überhaupt umsetzbar wäre. Denn in Österreich sind seit 2018 die Personenstandseinträge „inter“, „offen“, „divers“ und „keine Angabe“ ausdrücklich zulässig, ebenso der Eintrag „X“ in Reisepässen für das dritte Geschlecht. [Q18] [Q19]

Würden die von Nehammer geforderten Änderungen konsequent umgesetzt, müssten all diese Personen wieder um ihre Sichtbarkeit und Sicherheit bangen. Es gibt keine einheitlichen Kriterien dafür, wann einzelne dieser Identitäten „Frau genug“ wären, um noch einen dieser Schutzräume aufsuchen zu dürfen.Und realistisch wären nicht einmal cis Frauen davor gefeit, von besonders argwöhnischen Personen ausgeschlossen, verdächtigt oder öffentlich beschuldigt zu werden, sofern sie sich nicht alle Mühen gäben, besonders weiblich aufzutreten: so sind z.B. in den USA unmittelbar nach Inkrafttreten der ersten sogenannten „Bathroom Bills“ zunächst nur cis Frauen (für ihr angeblich „zu männliches Auftreten“) beschuldigt und aus öffentlichen Toiletten verwiesen worden.

Trans Männer hingegen müssten nach den transfeindlichen Forderungen weiterhin Räume für Frauen aufsuchen – was weder sie selbst, noch die Frauen, mit denen sie die Räume dann teilten, befürworten.

All dies zusammengenommen läuft unweigerlich Gefahr, eine Grundlage für Diskriminierung queerer Personen, bzw. generell aller Personen, die als „nicht dem Standard entsprechend“ wahrgenommen werden können, zu schaffen.

„Bekenntnis zu zwei Geschlechtern in der Sprache“ (Seite 57)

Nehammer setzt sich vordergründig ein für „Gleichbehandlung und Gleichstellung von Männern und Frauen“. Allerdings dürfe „die Debatte über Maßnahmen für mehr Fairness […] nicht vom sprachlichen ‘Gendern’ überschattet werden“. Er fordert ein Abschaffen der Verwendung von Sonderzeichen wie dem Binnen-I, Sternchen oder Doppelpunkt, will stattdessen Doppelnennungen wie „Österreicherinnen und Österreicher“ verstärkt verwendet sehen. Er bezieht sich dafür u.a. auf den Rat für deutsche Rechtschreibung. Dieser lehnt jedoch nicht, wie behauptet, „Gendern aus guten Gründen ab“. Stattdessen hat er im Vorjahr eine durchaus nuancierte (wenn auch sehr zurückhaltende) Stellungnahme abgegeben, laut der zwar die Verwendung von Sonderzeichen im Wortinneren mit Vorsicht beobachtet werden müsse, geschlechtergerechte Sprache aber eindeutig „eine gesellschaftliche und gesellschaftspolitische Aufgabe“ sei. [Q20]

Nehammer vergisst hier offensichtlich (bzw. ignoriert ganz bewusst) inter* und nichtbinäre Menschen, welche weder durch die männliche noch durch die weibliche Form eines Wortes angesprochen werden und macht diese Menschengruppen damit praktisch unsichtbar.
Ziel der geschlechtersensiblen Sprache ist die Gleichstellung ALLER Geschlechter. Natürlich bekennen auch wir uns zur Gleichstellung von Frau und Mann – allerdings schließt das unserer Meinung nicht aus, auch auf andere Rücksicht nehmen und sie mit Respekt behandeln zu können.

Eigentlich muss der Staat mit seinen Gesetzestexten die gesamte Bevölkerung ansprechen und geschlechtersensible Sprache stellt eine mögliche Lösung dar. Die Überschrift „Bekenntnis zu zwei Geschlechtern […]“ hinterlässt jedoch den Eindruck, dass das Unsichtbar-machen von inter* und nichtbinären Menschen ganz in Nehammers Sinne sei, obwohl Österreich doch gesetzlich eindeutig mehr als 2 Geschlechter anerkennt.Dies ist leider nicht das erste Mal, dass Nehammer dafür auffällt, dritte bzw. nicht-normative Geschlechter sprachlich nicht anerkennen zu wollen. Schon 2020 musste er sich diesbezüglich einer Klage stellen und der eindeutigen Rechtsprechung fügen. [Q19] [Q21]

Wissenschaftliche Arbeiten sollen ebenfalls alle relevanten Menschengruppen mit klaren und präzisen Formulierungen ansprechen und erneut bietet geschlechtersensible Sprache einen Lösungs-Ansatz – schließlich geht es dabei darum, die in der Gesellschaft gelebte Realität genau abzubilden. Doch auch daran stört sich Nehammer und fordert, die mitunter übliche Voraussetzung geschlechtersensibler Sprache für wissenschaftliche Arbeiten an Universitäten und Hochschulen zu verhindern. [Q22] [Q23]

Was Nehammer hier als „übertriebenes Gendern“ abtut, ist im Übrigen genau das Gegenteil. Die alltägliche deutsche Sprache verwendet nahezu ausschließlich „gegenderte“ Wörter – viele davon sehr entgegen der angeblich angestrebten Gleichstellung von Frau und Mann. Geschlechtergerechte Sprache hingegen „entgendert“ dort, wo es nötig ist, um echte Gleichstellung zu ermöglichen.

Conclusio

Die Existenz, Sichtbarkeit, Versorgung und Anerkennung von trans, nicht-binären und inter* Menschen, ob minderjährig oder erwachsen, stellt keine Bedrohung dar. Nicht für Österreich, nicht für cis Frauen, nicht für Kinder, Jugendliche oder Erwachsene.

Der Versuch, uns als Gefahr darzustellen und in uns ein Feindbild zu kreieren, ist weder neu noch bietet er echte Lösungen oder Abhilfe für auch nur eines der zahlreichen sozialen, wirtschaftlichen oder international-politischen Probleme, mit denen wir alle momentan beschäftigt sind. Marginalisierung und Ausgrenzung von Minderheiten haben historisch noch nie positive soziale Veränderungen gebracht, sondern sind lediglich populistische Augenwischerei: es werden Sündenböcke gefunden, anstatt für echte Verbesserungen für Menschen einzustehen.

Hier müssen wir darauf hinweisen, wie perfide Nehammers Unterstellungen Misstrauen gegen weitere Minderheiten schüren: so will er etwa den Einkommens-Unterschied zwischen Menschen mit und ohne Erwerb drastisch erhöhen, Migration massiv einschränken – die hier und im Rest des „Österreichplans“ verwendete Sprache unterstellt betroffenen Personen-Gruppen unverhohlen, das Sozialsystem mutwillig ausnutzen und sich um ihren Beitrag zur Gesellschaft drücken zu wollen.

An anderer Stelle soll der Schutz von Frauen vor Gewalt sichergestellt werden, vor einer sogenannten „Ehrkultur“, die angeblich Migrant*innen nach Österreich brächten. Gefahren, die bereits in unserer Gesellschaft bestehen, werden jedoch gar nicht erst eingeräumt – „patriarchale Strukturen“ etwa seien ausschließlich ein Import durch Geflüchtete, ein Ergebnis gescheiterter Integration. (Richtig gelesen, Integration, nicht Inklusion. Nehammer positioniert sich nämlich auch klar gegen letztere und verlangt stattdessen vollständige Anpassung von Hilfesuchenden.)

Auch zur Förderung von Frauen (Seite 41) findet Nehammer leider nur derart herablassenden Worte: er fordert dafür Sichtbarmachung von „moderne[n] Rollenbildern“ und Vorbildern um Frauen in Führungspositionen zu stärken. Die Implikation ist eindeutig: dass Mädchen doch nur besser auf ihre Perspektiven hingewiesen werden müssten, um sich endlich auch gleichberechtigt auf allen Ebenen an der Wirtschaft beteiligen zu können. Erneut werden sexistische patriarchale Strukturen, die schon lange in Gesellschaft und Unternehmen verankert sind, als mögliche Hürden ignoriert und deren Abbau damit unnötig erschwert.

Mit der Formulierung des vermeintlichen „Kinderschutzpaket[s]“ soll unterbewusst die Sorge geweckt werden, Kinder könnten einfach zu ihren Hausärzt*innen gehen und dort direkt und ohne weitere Fragen Hormone verschrieben bekommen. Wie im entsprechenden Kapitel von uns erläutert, kann dies jedoch von der Realität nicht weiter entfernt sein.

Der Abschnitt zum angeblichen „Gender-Missbrauch“ spricht trans Frauen das Recht ab, am Frauensport teilzunehmen. Hinzu kommt, dass einige Sportverbände (wie z.B. der Schwimm-Weltverband World Aquatics) inzwischen trans Frauen untersagen am Frauensport teilzunehmen, sofern sie ihre Transition nicht rechtzeitig vor der Pubertät vollzogen haben – was ja Nehammer pauschal verbieten möchte. Entsprechend will er trans Frauen jede Möglichkeit nehmen, Frauensport auszuüben. Solche Rhetorik versucht, jedwede Diskriminierung dadurch zu legitimieren, dass Queerfeindlichkeit salonfähig gemacht wird. So werden nicht nur frauenverachtende Vorurteile als Probleme ignoriert, sondern relativiert und regelrecht „einzementiert“, im Namen eines „Schutzes vor queeren Personen“.

Wie in den bereits besprochenen Abschnitten zu queeren Themen werden mit all diesen Beispielen Narrative bedient, die den Leser*innen einfache Lösungen versprechen, ohne sich um die größeren Ursachen sozialer oder gesellschaftlicher Missstände sorgen zu müssen: wer Schwächere verantwortlich machen kann, fühlt sich selbst weniger verpflichtet etwas zu verändern. Und so ist letztendlich die implizite Botschaft Nehammers bei den angesprochenen Problemen stets dieselbe: „Ich kann nichts dafür, wenn hier etwas schiefläuft. Das kommt alles von außen, vom Fremden. Wer etwas dagegen machen will, muss sich nur mit mir gegen das Fremde stellen!“

Wir stehen ein für Respekt unserer Existenz gegenüber, adäquate Gesundheitsversorgung und das Recht aller Kinder, sich so entfalten zu können, wie sie es möchten und es erwiesenermaßen gut für sie ist, mit all der Unterstützung, die sie brauchen.

Wir erwarten, dass cis und trans Frauen, inter*, nicht-binäre Personen und andere marginalisierte Menschen ausreichend Plätze in Schutzräumen haben und alle Unterstützung erfahren, die sie nötig haben. Genauso können cis, trans und inter* Männer die Folgen patriarchaler Gewalt erfahren und von Schutzräumen profitieren – deshalb sprechen wir uns für umfangreiche Konzepte zur Aufklärung und Gewaltprävention aus und fordern angemessenen Schutz für alle, die darauf angewiesen sind.

Wir möchten, dass wir als Gesellschaft gemeinsam daran arbeiten, wie wir Rücksicht aufeinander nehmen und friedlich und produktiv zusammenleben können.

An dieser Stelle dürfen wir nicht ignorieren, dass queere Menschen bei Weitem nicht die einzigen sind, gegen die aktuell gehetzt wird. Migrant*innen, People of Color und Mitglieder spezifischer Glaubensrichtungen etwa sehen sich aus diversen Gründen Rassismus, Antisemitismus, Islamophobie, wie auch weiteren Formen impliziter und expliziter Fremdenfeindlichkeit ausgesetzt. Mit ihnen solidarisieren wir uns ausdrücklich und ermutigen unsere Leser*innen, ausführlicheren Informationen und Erfahrungs-Berichten Betroffener nachzugehen.

Wir hoffen, dass wir Euch motivieren konnten, werte Leser*innen, über den eigenen Tellerrand hinauszublicken und Euch nicht von leerer Hetze einwickeln zu lassen. Möglicherweise stellt Ihr Euch aber noch immer die Frage, ob Ihr nicht die hier wiedergegebenen queerfeindlichen, rassistischen oder anderweitig diskriminierenden Anfeindungen ignorieren könnt, wenn sie euch scheinbar nicht unmittelbar betreffen.

Jede Hetze, sei sie gegen queere, insbesondere trans, inter* und nicht-binäre, oder vielseitig anders marginalisierte Menschen, ist nicht nur unproduktiv, sondern für unsere Demokratie aktiv gefährlich. Eklatante Lügen über marginalisierte Gruppen hebeln die Wahrheitsfindungssysteme unserer Gesellschaft aus. Politiker*innen sprechen über Themen, in denen sie keine Art von Expertise haben, mit Autorität, die ihnen von Wähler*innen geliehen wurde und die sie nun behalten wollen. Den Weg, an der Macht zu bleiben, sehen sie darin, durch Feindbilder und Polarisierung zu verhindern, dass wir uns zusammenschließen, um für echte Verbesserungen unserer Lebensumstände zu kämpfen und komplexe, schwierige, unbequeme Lösungen für Not, Leid, und gesellschaftliche Probleme zu finden. Aber genau darin liegt unsere Kraft als Zivilgesellschaft: gemeinsam können wir unsere Anliegen durchsetzen, durch Solidarität und durch Zurückweisung von falschen Narrativen, die uns ablenken und klein halten.

Es ist allzu einfach, zu meinen, dass diese Hetze „mich nicht betrifft“. Aber Populismus sucht immer Feindbilder, und je nachdem, wer gerade unbequem ist, können sich diese sehr schnell ändern. Früher waren es Feminist*innen und Schwule bzw. Lesben. Heute sind es trans, inter* Personen und Geflüchtete. Die Reduktion von Sozialhilfe mag jetzt kein Problem sein, aber wie sieht es aus, wenn ich plötzlich krank werde? Wenn ich meinen Job verliere? Wenn meine Miete weiter steigt?

Eine bessere Gesellschaft wird nicht auf Ausschluss und Abgrenzung gebaut, sondern auf Gemeinschaft, einem robuste Fürsorgesystem und starken Netzwerken, die Not und Leid vorbeugen und abfedern können.

Achtet darauf, wie im kommenden Wahlkampf über Menschengruppen gesprochen wird. Ob verallgemeinert und verhetzt wird, ohne dass dabei eine Lösung durchscheint. Überlegt Euch, was die Themen sind, die in Eurem Leben und in unserer Gesellschaft wirklich relevant sind und dringenden Handlungsbedarf mit sich bringen. Hört zu, wer echte Lösungsansätze hat und sich nicht auf Wut und Emotionen, sondern auf echte, durchdachte Strategien konzentriert.

All diesen Aufwand – die Recherche, das Schreiben, Editieren und Vernetzen – haben wir betrieben, weil auch wir Angst haben. Angst vor dem, was uns erwartet, wenn rechte Kräfte ihren Willen bekommen und nach und nach mehr und mehr unserer Freiheiten einschränken können – denn die Geschichte lehrt uns, dass Populist*innen ihre Ziele immer weiter verschieben und sich nie mit den bisherigen Zugeständnissen begnügen werden. Und diese Angst ist gewollt, ist Teil ihrer Strategie. Deswegen müssen wir uns alle solidarisch zeigen und ihr mit Mut und Zuversicht entgegentreten.

Für Euer Vertrauen, Eure Aufmerksamkeit und Euer Interesse wollen wir Euch an dieser Stelle daher aufrichtig danken. Wir freuen uns darauf, mit Euch gemeinsam unsere Ängste zu überwinden und mit Hoffnung in die Zukunft zu blicken.


Unterzeichnet von:

  • Queeres Chaos Kollektiv (Verfassung des Briefes)
  • Venib – Verein Nicht-Binär (Mitwirkend)
  • Cha(i)nge – Trans Peer Group Vienna (Mitwirkend)
  • AEP – Arbeitskreis Emanzipation und Partnerschaft
  • COURAGE Beratungsstellen
  • Café Lotta
  • FAK – Feministisches Aktionskollektiv
  • FAmOs – Regenbogenfamilien Österreich
  • Il Corvo Innsbruck
  • LGBTQ+ Studierenden Club Innsbruck
  • lilawohnt
  • Mag. Michael Peintner, Innsbruck: Psychotherapeut, Mitglied der Trans*-/Inter*-Expert:innenkommision des ÖBVP (Österreichischer Bundesverband für Psychotherapie), Mitarbeiter der Beratungsstelle COURAGE Innsbruck
  • OÄ Dr.in Katharina Feil
  • ÖH Innsbruck
  • Pro Choice Innsbruck
  • Queer Denker Bezirk Kitzbühel
  • Q:WIR – Verein zur Stärkung und Sichtbarmachung queeren Lebens in Wien
  • Regenbogenfamilienzentrum Wien
  • safer spaces – Fachstelle für sexuelle Bildung und Gewaltprävention
  • SOFI – Solidarisch Feministisch Ius Innsbruck
  • TransX – Verein für Transgender Personen
  • Verein Aranea – Raum für Mädchen* und junge Frauen*
  • Verein Intergeschlechtlicher Menschen Österreich
  • Verein Mistelbach Pride
  • Verein RosaLila PantherInnen
  • Zentrum Sexuelle Gesundheit Tirol

Glossar

Der Begriff Geschlecht drückt im deutschen Sprachraum gleich mehrere Dinge auf einmal aus. Die meisten Menschen werden dabei an das Geschlecht denken, dass einem Baby einmalig bei der Geburt zugewiesen wird. Die Identität einer Person ist jedoch wandelbar und so wird der Begriff auch benutzt, um zu beschreiben, wie sich eine Person am besten selbst repräsentiert sieht. Auf Englisch wird dafür grob zwischen den Begriffen sex und gender unterschieden.

Die Bezeichnung cis bedeutet nichts anderes, als dass eine Person sich mit dem Geschlecht identifiziert, das ihr bei der Geburt zugewiesen worden ist. Dies ist für den größten Teil der Bevölkerung der Fall.

Die Bezeichnung trans beschreibt im Gegenzug eine Person, die sich nicht mit dem ihr bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht identifiziert. Darunter können u.a. fallen: trans Männer, trans Frauen, nicht-binäre Personen (die sich nicht eindeutig oder ausschließlich als männlich oder weiblich identifizieren) und agender Personen (die sich mit keinem Geschlecht identifizieren).

An dieser Stelle sei außerdem festgehalten, dass die Zuweisung bei der Geburt in beinahe allen Fällen zu den zwei Kategorien männlich und weiblich stattfindet, und zwar ausschließlich danach, welche Körpermerkmale sichtbar am Baby festgestellt werden. Da menschliche Körper jedoch vielseitig sind, ist diese Zuweisung längst nicht immer so eindeutig, wie viele annehmen würden: aus einer Vielzahl von Gründen können bei der Geburt mehrere unterschiedliche reproduktive Merkmale ausgeprägt sein. Genauso ist es möglich, dass die äußeren Merkmale zwar „eindeutig“ ein Geschlecht nahelegen, jedoch innerlich andere Merkmale ausgeprägt sind. Zudem kann die hormonelle Entwicklung anders verlaufen, als es von dem zugewiesenen Geschlecht erwartet wird. In diesen (und einigen anderen) Fällen ist von intergeschlechtlichen, bzw. inter*Personen die Rede. Mehr Informationen zu inter* findet ihr bei VIMÖ – Verein intergeschlechtlicher Menschen Österreich.

In geschlechtergerechter Sprache kann an vielen Stellen ein Sternchen (*) verwendet werden, um die Vielfalt hinter den verwendeten Begriffen auszudrücken. Der Begriff inter* ist übrigens nur in exakt dieser Schreibweise mit dem Zeichen korrekt.


Quellenliste


Statements anderer Organisationen